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Marie Juchacz über Trump

Schreibe einen ausführlichen Artikel aus der Ich-Position von Marie Juchacz als Reaktion auf dieses Wahlergebnis.

„Ein Aufruf zur Wachsamkeit und zum Zusammenhalt – Gedanken zum Wahlergebnis in den USA“

Als ich in diesen Tagen vernahm, dass Donald Trump erneut das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten übernehmen könnte, war ich bestürzt, ja sogar zutiefst betroffen. Ich frage mich, wie ein Land, das sich auf die Grundsätze der Freiheit und des Fortschritts beruft, erneut einem Mann seine Stimme geben kann, dessen Politik von Spaltung, Rückschritt und der Missachtung sozialer Errungenschaften geprägt ist.

Wenn ich zurückblicke auf die Jahre meiner eigenen politischen Arbeit, dann waren es stets die Rechte und das Wohl der Schwächsten, der Arbeiter, der Frauen und all jener, die keine laute Stimme hatten, die mich angetrieben haben. Ich habe die AWO gegründet, weil ich glaubte – und fest daran glaube –, dass eine gerechte Gesellschaft nur durch Solidarität und ein tiefes Verständnis für die Bedürfnisse des Anderen geschaffen werden kann. Doch was ich in den letzten Jahren von der amerikanischen Politik wahrnehmen konnte, steht diesen Werten nahezu entgegen.

Trump hat in seiner ersten Amtszeit gezeigt, dass ihm die Einheit der Gesellschaft wenig bedeutet. Er spaltete, wo Einigkeit gefordert gewesen wäre, und errichtete Barrieren, wo Verständnis hätte wachsen sollen. Die gesellschaftlichen Spannungen, die sich während seiner Zeit verschärften, haben auch auf andere Nationen übergegriffen, als wäre die Welt ein Pulverfass, das nur darauf wartet, entzündet zu werden. Es erfüllt mich mit Sorge, dass die Wiederwahl Trumps ein Signal für andere Länder sein könnte, dem Pfad von Populismus, Rückschritt und Egoismus zu folgen.

Was mich als Frau besonders bewegt, ist das Rückschreiten der Rechte und Freiheiten, die Frauen, Minderheiten und sozial Schwächere in Amerika erleiden müssen. Die Tatsache, dass in einer hochentwickelten Nation wie den Vereinigten Staaten grundlegende Rechte, wie der Zugang zu Gesundheitsversorgung und die Rechte der LGBTQ+-Gemeinschaft, eingeschränkt wurden, ist für mich schwer erträglich. Es scheint mir, als wäre ein Rückschritt in jene Zeiten vollzogen worden, gegen die wir Frauenrechtlerinnen und Sozialreformerinnen mit ganzer Kraft gekämpft haben.

Dieser Wahlausgang ist für mich ein Weckruf an uns alle. Ich frage euch: Wollen wir weiterhin zusehen, wie Populismus und Nationalismus das Fundament der Demokratien bedrohen, das viele Menschen über Jahrzehnte hinweg errichtet haben? Europa, insbesondere Deutschland, darf hier nicht nachlässig werden. Es ist an uns, die Flamme der Demokratie und des sozialen Fortschritts am Leben zu erhalten. Jede demokratische Wahl – ob in den Vereinigten Staaten oder anderswo – hat Auswirkungen auf die ganze Welt, und es liegt an uns, sicherzustellen, dass wir aus solchen Ereignissen lernen.

Ein solches Ergebnis, so weit entfernt es scheinen mag, ist eine Mahnung an Deutschland und an alle europäischen Nationen. Wir dürfen uns nicht in falscher Sicherheit wiegen. Auch hier gibt es Kräfte, die das soziale Netz schwächen, die für ein Wirtschaftssystem eintreten, das den Menschen und die Gesellschaft auf Kosten der wenigen Privilegierten ausbeutet. Die neoliberalen Ideologien, die viele unserer Strukturen durchdringen, drohen ebenso die Solidarität zu untergraben, auf der unser gesellschaftlicher Zusammenhalt fußt.

Ich möchte uns alle dazu aufrufen, aus diesem Wahlausgang die nötige Wachsamkeit zu ziehen und uns nicht zu spalten, sondern uns im Gegenteil stärker denn je für die sozialen Werte einzusetzen, die uns als Gemeinschaft verbinden. Lasst uns Solidarität, Toleranz und Gerechtigkeit nicht nur als Schlagworte sehen, sondern als Verpflichtung, für die wir in unserem Alltag, in unserer Politik und in unserem Handeln einstehen.

Unser Ziel muss es sein, nicht nur uns selbst, sondern auch unseren Nachkommen eine Welt zu hinterlassen, die auf Gerechtigkeit, Frieden und Menschlichkeit basiert. Die AWO, als eine Organisation, die sich diesen Idealen verschrieben hat, ist ein Beispiel dafür, dass wir den Unterschied machen können, wenn wir für unsere Werte einstehen. Auch heute, vielleicht sogar heute mehr denn je, brauchen wir diese Standhaftigkeit.

Ich bin fest davon überzeugt, dass ein gemeinschaftliches, friedvolles Miteinander möglich ist, wenn wir geschlossen gegen die Wellen der Intoleranz und des sozialen Rückschritts ankämpfen. Lasst uns diese Herausforderung annehmen, nicht nur in Gedanken, sondern in Taten, und uns daran erinnern, dass der Weg zum Fortschritt oft lang und steinig ist. Doch es ist der Weg, der uns wahrhaft als Gesellschaft voranbringt.

Mit einer offenen Hand und einem festen Herzen,

Marie Juchacz